»Die Formel des Widerstands«: Forschung, Freundschaft und Krieg
Am Beginn des Buchs steht eine geheime Mission: Im März 1940 sollten 26 Kanister heimlich aus Norwegen nach Frankreich gebracht werden. In den Behältern befand sich schweres Wasser, das, chemisch betrachtet, statt zweier »normaler« Wasserstoffatome das Isotop Deuterium enthält und deshalb weniger reaktionsfreudig ist. Gebraucht wurde die Flüssigkeit für Experimente der Kernforschung in Paris; um keinen Preis sollten die Deutschen in Besitz des Stoffs kommen.
Auf 240 Seiten beschreibt Astrid Viciano nicht nur die bahnbrechenden physikalischen Entdeckungen und Entwicklungen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch die persönlichen Herausforderungen deutscher und französischer Physiker bei Ausbruch des Krieges und während der deutschen Besatzung Frankreichs. In neun Kapiteln zeichnet die Autorin die Gefühle der handelnden Personen nach und bringt dem Leser prominente Physiker nicht nur als Forscher, sondern auch als Menschen nahe.
Im Zentrum stehen der deutsche Physiker Wolfgang Gentner und sein französischer Kollege Frédéric Joliot-Curie. Über die gemeinsame Arbeit hatte sich eine Freundschaft zwischen den Wissenschaftlern entwickelt, die allerdings durch die politischen Entwicklungen auf eine harte Probe gestellt wurde. Die Schilderungen dieser Zeit und ihrer Protagonisten lesen sich stellenweise eher wie ein Krimi oder ein Spionageroman denn wie ein Sachbuch – etwa als es zu einem geheimen Treffen zwischen Gentner und Joliot-Curie im Hinterzimmer eines Pariser Cafés kommt.
Der Schatten des Krieges
Viciano beleuchtet nicht nur die wissenschaftlichen Herausforderungen, die mit der Entdeckung der Kernspaltung einhergingen, sondern auch die menschliche Dimension dieser schwierigen Zeit. So ist es nur schwer vorstellbar, wie sich Wolfgang Gentner gefühlt haben muss, als er für die Nationalsozialisten das Verhör mit seinem Freund Frédéric Joliot-Curie übersetzen musste. Gleichzeitig ergaben sich Möglichkeiten, seine französischen Freunde zu schützen, als Gentner die Aufsicht über die Arbeit der Forscher am Collège de France übernahm – auch die Deutschen arbeiteten fieberhaft an der Entwicklung einer Atombombe. Der Krieg und der Wettlauf um den Bau der Atombombe veränderten die Wissenschaftslandschaft nachhaltig. So brachten mit Beginn des Zweiten Weltkriegs Fachzeitschriften keine Artikel mehr zum Thema der Kernforschung. Alles unterlag der Geheimhaltung und diente militärischen Zielen.
Frédéric Joliot-Curie ist für die Autorin nicht bloß der Schwiegersohn der berühmten Marie Curie. Der Leser kann seinen alles andere als leichten Weg nacherleben, auf dem er zu einem der besten Physiker seiner Zeit wurde. Im Unterschied zu anderen Kollegen hatte er keine Elite-Hochschule besucht, sondern die Hochschule für Industrielle Physik und Chemie, denn sie verlangte keine Studiengebühren. Dennoch machte er sich durch experimentelles Geschick, Fleiß und Ehrgeiz schnell einen Namen. 1925 kam er schließlich ans Radium-Institut von Marie Curie und heiratete ein Jahr später deren Tochter Irene, mit der er auch im Labor ein eingespieltes Team bildete. 1935 wurden sie für ihre Entdeckung der künstlichen Radioaktivität gemeinsam mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Am Radium-Institut knüpfte Joliot-Curie auch die schicksalhafte Freundschaft zum deutschen Physiker Wolfgang Gentner.
Als die Nationalsozialisten schließlich Paris einnahmen, geriet Joliot-Curie in einen Zwiespalt: Sollte er seine Arbeit an der Kernforschung fortsetzen oder Widerstand gegen die deutschen Besatzer leisten? Erstmals bezog er öffentlich Stellung gegen die Deutschen, als sein Mentor und Vorbild Paul Langevin – Namensgeber der »Langevin-Gleichung« und erster Entwickler des aktiven Sonars zur U-Boot-Ortung – von den Deutschen verhaftet wurde. Auch Joliot-Curie selbst wurde 1941 verhaftet und kam nur dank der Intervention seines Freundes Wolfgang Gentner bald wieder frei. Trotzdem wurde er zu einer wichtigen Figur der Résistance. In einem Lüftungskasten seines Labors wurde beispielsweise ein Empfänger für kodierte Nachrichten aus London versteckt. Und als seine Frau und die Kinder schließlich in die Schweiz flohen, harrte er weiter in Paris aus.
Wie sehr die Freiheit der Wissenschaft auch in Deutschland eingeschränkt wurde, erzählt Viciano anhand von Wolfgang Genters Leben. Dieser war 1935 nach Deutschland zurückgekehrt und musste aufgrund seiner politischen Haltung gegen zahlreiche Repressionen kämpfen. So wurde er bei der Besetzung eines Lehrstuhls in Leipzig übergangen – trotz optimaler Qualifikation. Nach der Eroberung Frankreichs wurde er vom Heereswaffenamt nach Paris geschickt, wo er und sein Freund Joliot-Curie nach besten Kräften versuchten, Fortschritte jeder Kernforschung zu vereiteln, die im Dienste der Deutschen stand.
Wie die beiden Freunde und andere Wissenschaftler um die Balance zwischen Forschung, persönlicher Sicherheit und ihrem eigenen Gewissen gerungen haben, schildert Astrid Viciano faszinierend. Auch wenn es mitunter wie Fiktion anmutet: Dieses Buch porträtiert echte Menschen, die zugleich zu den wichtigsten Physikern ihrer Zeit gehörten.
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