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Mathematische Unterhaltungen: Das Rätsel der wackelnden Tetraeder

Nur selten ist aktuelle mathematische Forschung greifbar. Nicht so bei unsymmetrischen Kaleidozyklen: Diese geometrischen Formen lassen sich nicht nur visualisieren, sondern haben auch handfeste Anwendungen.
Abstrakte Darstellung von leuchtenden, blauen geometrischen Formen, hauptsächlich Dreiecken, die in einem dunklen, sternenähnlichen Hintergrund schweben. Die Formen variieren in Größe und Transparenz, was eine dreidimensionale Illusion erzeugt. Einige Dreiecke sind mit Linien verbunden, die ein Netzwerk oder ein Gitter andeuten. Der Hintergrund ist dunkelblau, was die leuchtenden Formen hervorhebt.
Indem man Tetraeder geschickt miteinander verbindet, ergibt sich eine riesige Vielfalt an spannenden geometrischen Formen.

In der Regel klafft zwischen dem, was man an Mathematik in der Schule lernt, und dem, was die Fachleute heute treiben, eine kaum überwindliche Lücke. Aber manchmal gibt es aktuelle Forschungen, die auf Schulwissen aufbauen, Überraschungen bieten und zu allem Überfluss Anwendungen in der Raumfahrttechnik versprechen.

Zum eisernen Grundbestand der Schulmathematik zählen die Kongruenzsätze für Dreiecke, allen voran der mit dem sprechenden Namen SSS: Wenn alle drei Seitenlängen eines Dreiecks vorgegeben sind, dann ist das Dreieck damit starr und insbesondere eindeutig bestimmt bis auf Kongruenzabbildungen. Zwei Dreiecke gelten als im Wesentlichen gleich (»kongruent«), wenn man durch eine Folge von Parallelverschiebungen, Drehungen und Spiegelungen das eine mit dem anderen zur Deckung bringen kann.

Die Sache lässt sich ohne Weiteres von der Ebene in den Raum übertragen: Wenn die sechs Kantenlängen eines Tetraeders festgelegt sind, dann ist das aus ihnen konstruierte Tetraeder starr. Man kann es noch als Ganzes im Raum bewegen, aber es wackelt nicht.

Unter einem Tetraeder ist nicht nur der platonische Körper aus vier gleichseitigen Dreiecken zu verstehen. Es genügt, wenn der Körper von vier Dreiecken begrenzt wird, von denen sich in jeder Ecke drei treffen.

Mathematik mit direkter Anwendung

Diese einfache Tatsache hat direkte praktische Auswirkungen. Wenn man Balken oder Stangen an ihren Enden zu Gerüsten oder Ähnlichem verbindet, sind die Seitenlängen irgendwelcher Drei-, Vier- oder n-Ecke gleich den entsprechenden Balkenlängen und damit ohne Weiteres festgelegt – nicht aber die Winkel, unter denen sich die Balken treffen. Deswegen enthalten nahezu alle derartigen Gerüste, von den traditionellen Fachwerkhäusern über die Dachkonstruktion bei Messehallen bis hin zu stählernen Eisenbahnbrücken, wenigstens ein paar Schrägbalken, damit die so erzeugten Dreiecke der Gesamtkonstruktion die nötige Stabilität geben.

Im Folgenden soll es um Konstruktionen gehen, die erstens aus – nicht unbedingt regelmäßigen – Tetraedern bestehen. Zweitens sollen diese entlang ganzer Kanten miteinander verbunden sein, so als wäre die gemeinsame Kante ein Scharniergelenk. Drittens soll die gesamte Konstruktion wackeln können, aber nicht irgendwie, sondern nur auf genau eine Art. Derartige Ketten aus Tetraedern, die obendrein zum Ring geschlossen sind, haben der Künstler Wallace Walker und die Mathematikerin Doris Schattschneider mit den Mustern des Grafikers Maurits C. Escher versehen, wodurch die Formen große Popularität erreichten. Der von Walker und Schattschneider geprägte Name »Kaleidozyklus« hat sich mittlerweile etabliert.

Für ein genaueres Verständnis solcher Gelenkmechanismen geht man zweckmäßig zu Koordinaten über. Jede Ecke ist ein Punkt im dreidimensionalen Raum, dargestellt durch drei reelle Zahlen. Aus der Forderung, dass eine Kante eine bestimmte Länge haben soll, ergibt sich eine Gleichung für die Koordinaten der Endpunkte dieser Kante. Andere Gleichungen beschreiben Bedingungen wie zum Beispiel, dass zwei verschiedene Tetraeder entlang einer Kante verbunden sein sollen.

Insgesamt ergibt sich ein System von vielen Gleichungen für zahlreiche Koordinaten. Hat dieses System eine eindeutige Lösung, ist die Konstruktion starr. Gibt es ein Kontinuum von Lösungen, so ist sie beweglich. Kann man eine Lösung, sprich eine Konfiguration des Mechanismus, in verschiedenen voneinander unabhängigen Richtungen bewegen, dann hat sie mehrere »Freiheitsgrade«: nämlich so viele, wie es unabhängige Bewegungsrichtungen gibt, so die in der Kinematik übliche Sprechweise.

Flexible Tetraederketten

Interessant ist dabei aber nicht die Freiheit, den Mechanismus als Ganzes im Raum zu transportieren. Vielmehr kommt es darauf an, wie sich die Komponenten des Systems gegeneinander bewegen. Um die beiden Bewegungsformen zu unterscheiden, verwendet man das mathematische Äquivalent einer Schraubzwinge: Man klemmt gewisse Punkte im Raum fest, bis das Gesamtsystem nicht mehr davonlaufen kann, allerdings ohne die innere Beweglichkeit zu beeinträchtigen.

Bei Tetraederketten würde man zum Beispiel eines der Tetraeder herausgreifen und die erste seiner Ecken im Nullpunkt fixieren. Das gibt drei Gleichungen: Alle drei Koordinaten dieser Ecke sind gleich null. Dann dreht man das Ding so lange, bis die zweite Ecke auf der x-Achse liegt, und klemmt sie dort fest; das entspricht zwei Gleichungen, nämlich y- und z-Koordinate der zweiten Ecke gleich null. Nun kann das ganze Gebilde nur noch um die x-Achse rotieren. Das nutzt man dazu, die dritte Ecke in die x-y-Ebene zu bringen und dort anzuklemmen, was auf eine weitere Gleichung hinausläuft. Damit haben wir durch insgesamt sechs Gleichungen die starren Bewegungen des Gesamtgebildes im Raum eliminiert.

Allgemein gilt: Die Bewegung eines starren Körpers im Raum hat sechs Freiheitsgrade. Wenn umgekehrt ein Gerüst nirgendwo festgeklemmt ist und nur sechs Freiheitsgrade hat, ist es starr, denn alle seine Freiheiten sind durch Translationen und Rotationen des Gesamtgebildes bereits aufgezehrt.

Lösen wir nun vorübergehend die Schraubzwingen und verknüpfen eine Anzahl N von Tetraedern zum Ring. Und zwar soll jedes Tetraeder entlang zwei seiner gegenüberliegenden Kanten mit seinen beiden Nachbarn verbunden sein. Was »gegenüberliegend« heißen soll, ist beim Tetraeder eindeutig bestimmt: Jede Kante verbindet zwei Ecken des Körpers miteinander. Die gegenüberliegende Kante ist diejenige, welche die beiden anderen Ecken miteinander verbindet – es gibt insgesamt nur vier.

Solange alle N Tetraeder irgendwie im Raum herumhängen, haben sie insgesamt 6N Freiheitsgrade. Indem wir zwei von ihnen in einer Ecke aneinanderklemmen, verliert das System drei Freiheitsgrade – es sind ja drei Gleichungen zu erfüllen. Die zweite Ecke der gemeinsamen Kante zu fixieren, kostet noch einmal zwei Freiheitsgrade, wie oben beim Festklemmen auf die x-Achse. Dabei haben wir stillschweigend vorausgesetzt, dass die beiden Kanten gleich lang sind; sonst wäre eine Lösung ohnehin unmöglich.

Insgesamt vermindert also jede Verbindung zweier Kanten zu einem Scharnier die Anzahl der Freiheitsgrade um fünf. Ein Ring von N Tetraedern hat N derartige Verbindungen, also bleiben insgesamt 6N – 5N = N Freiheitsgrade. Das würde heißen: Ein sechsgliedriger Ring ist starr. Ringe mit weniger als sechs Gliedern kann es nicht geben, und erst ab N = 7 beginnt die innere Beweglichkeit.

Das ist offensichtlich falsch. Es gibt sechsgliedrige Kaleidozyklen, die eine sehr interessante Umstülpbewegung vollführen.

Solche sind auch in der Sammlung von Walker und Schattschneider vertreten. Und wenn man es geschickt anstellt, ist sogar ein Zyklus aus nur vier Tetraedern noch beweglich. Wie kann das sein?

Das scheinbare Paradox kommt zu Stande, weil das Abzählen von Freiheitsgraden nur eine erste Orientierung liefert. Dahinter steckt die Regel, dass ein Gleichungssystem dann eine eindeutige Lösung hat, wenn es genauso viele Gleichungen gibt wie Unbekannte. Man braucht gewissermaßen n Aufpasser (die Gleichungen), um n wilde Welpen (die Unbekannten) an der Leine zu halten. Dabei binden die Leinen die Hundchen auf die komplizierteste Weise aneinander. Aber wenn es einen Aufpasser zu wenig gibt, macht ein Welpe, was er will, und die anderen rennen notgedrungen hinterher – ein Freiheitsgrad. Das Lösen des Gleichungssystems besteht darin, die Leinen so kunstvoll zu entknoten, dass am Ende jeder Hund genau einen Aufpasser hat und umgekehrt.

Keine Regel ohne Ausnahme

Nur ist die Regel »genauso viele Gleichungen wie Unbekannte« eben nur eine Regel. Es gibt Ausnahmen, und diese Fälle sind die interessanten. Es kann sein, dass eine Gleichung den anderen widerspricht, so dass das System gar keine Lösung hat. Oder eine Gleichung sagt dasselbe wie eine andere oder zumindest etwas, das man aus den anderen erschließen kann. Dann tut ein Aufpasser nichts, was die anderen nicht auch schon täten. Und schon gewinnt die Welpenschar einen Freiheitsgrad.

Ein probates Mittel, um eine solche Situation herbeizuführen, ist die Einführung von Symmetrien. Man kann zum Beispiel fordern, dass drei von sechs Tetraedern genau die spiegelbildliche Bewegung der drei anderen ausführen. Dann sagen die Gleichungen für die gespiegelten Punkte genau dasselbe wie diejenigen für die »echten« und sind deswegen entbehrlich – vorausgesetzt, das ganze Gleichungssystem erlaubt überhaupt eine derart symmetrische Bewegung.

Das klassische Rezept zur Herstellung eines Sechsteilers geht sogar noch weiter: Nimm eine kurze Stange und schweiße an deren Mittelpunkt im rechten Winkel eine längere Stange. An deren Ende schweiße wieder eine kurze Stange mit deren Mittelpunkt, und zwar so, dass die zweite kurze Stange nicht nur zur langen, sondern auch zur anderen kurzen rechtwinklig steht. Oder was auf dasselbe hinausläuft, baue ein Tetraeder, dessen Ecken die vier Enden der kurzen Stangen sind. Stelle zwei Spiegel so auf die Tischplatte, dass sie im Winkel 60 Grad aneinanderstoßen. Setze das Tetraeder beziehungsweise dessen Stangenskelett so zwischen die beiden Spiegel, dass jede kurze Stange in einer der Spiegelflächen liegt. Das gelingt nicht nur – wenn die Stangenlängen nicht allzu ungeschickt gewählt sind, kann man sogar die kurze Stange auf dem ersten Spiegel um 360 Grad drehen, während ihre Kollegin die ganze Zeit dem zweiten Spiegel anliegt; beide Stangen müssen während der Drehbewegung auf ihrem jeweiligen Spiegel ein bisschen herumrutschen (genauer: parallelverschoben werden). Dann zeigt das Originaltetraeder(-skelett) zusammen mit seinen Spiegelbildern und deren Spiegelbildern die komplette Bewegung des sechsteiligen Kaleidozyklus.

Zu dessen Realisierung genügt es, drei Tetraeder und deren Spiegelbilder abwechselnd mit ihren kurzen Kanten aneinanderzukleben. Interessanterweise hat der so hergestellte Sechsteiler genau einen internen Freiheitsgrad. Es gibt nur die eine Umstülpbewegung, der alle Beteiligten folgen müssen.

Mit regulären Tetraedern würde ein Sechsteiler nicht funktionieren. Da die Mittelstange zu kurz ist, geraten die kurzen Stangen beim Herumrutschen über die Kante hinaus, an der die beiden Spiegel sich treffen. Der komplette Mechanismus würde sich an dieser Stelle verklemmen, weil mehrere Teile denselben Platz beanspruchen.

Einen Achtteiler kann man nach demselben Rezept konstruieren. Es genügt, die beiden Spiegel in einem Winkel von 45 statt 60 Grad aufzustellen. Und anders als beim Sechsteiler darf das achtfach gespiegelte Tetraeder sogar regulär sein. Der so entstandene Tetraederring hat dann allerdings mehr als einen Freiheitsgrad, mit dem Effekt, dass er keine klare Umstülpbewegung vollführt, sondern irgendwie zwischen den Händen herumhampelt. Allgemein funktioniert das Rezept für jede gerade Anzahl N von Kettengliedern, wird allerdings für große N zunehmend uninteressant, weil das unkontrollierte Gehampel überhandnimmt.

Immerhin gibt es eine zwölfgliedrige Tetraederkette, deren große Anzahl an Freiheitsgraden ihr erlaubt, sich zu den verschiedensten Formen zusammenzulegen, darunter ein Würfel und ein Rhombendodekaeder, das ist ein Körper, der von zwölf gleichen Rauten begrenzt wird. Der französische Mathematiker Mickaël Launay, der mit dem Youtube-Kanal »Micmaths« bekannt geworden ist, nennt diese Kette »Flexaeder«; kommerziell wird sie als »Shashibo-Würfel« vertrieben.

Wie kann man jenseits dieses Spiegelungsrezepts Tetraederketten mit genau einem Freiheitsgrad finden? Die Frage ist überraschend schwierig zu beantworten. Nach dem oben beschriebenen Rezept zum Abzählen von Freiheitsgraden wäre die einzige Möglichkeit ein Siebenteiler; für alle größeren Gliederzahlen wäre wieder Gehampel zu befürchten. Obendrein sind die Gleichungen, auf die es hier ankommt, nichtlinear. Denn die Forderung, dass zwei Ecken einen vorgeschriebenen Abstand haben müssen, ist eine quadratische Gleichung für die Koordinaten der beiden Eckpunkte, was wiederum auf den Satz des Pythagoras zurückzuführen ist. Also ist die einzige vollständige Lösungstheorie, die es gibt, nicht anwendbar, denn die gilt für lineare Gleichungssysteme.

Für eine einzelne quadratische Gleichung gibt es eine probate Lösungsformel, mit einer Wurzel darin. Je nachdem, ob das, was unter dem Wurzelzeichen steht, positiv, null oder negativ ist, gibt es zwei Lösungen, eine oder gar keine. Für mehrere gekoppelte quadratische Gleichungen wird die Sache allerdings unübersichtlich. Es gibt zwar Lösungsverfahren, die in gewissen Fällen funktionieren; aber bei großen Anzahlen von Gleichungen sieht sich die Computeralgebra-Software, in welche die Verfahren einprogrammiert sind, sehr bald überfordert.

Neuer Ansatz für ein altes Problem

Aus einem allgemeinen Verfahren, mit dem man jede beliebige Tetraederkette mit einem Freiheitsgrad berechnen könnte, wird also auf absehbare Zeit nichts werden. Umso bemerkenswerter ist es, wenn jemand in diesen undurchdringlichen Dschungel eine Schneise schlägt. Das ist Johannes Schönke und Eliot Fried vom Okinawa Institute of Science and Technology (OIST) in Japan gelungen.

Das neue Konzept arbeitet nicht mit spiegelbildlich gleichen Tetraedern, sondern mit lauter exakt gleichen. Deren Anzahl ist zunächst beliebig, wenn sie nur größer als sechs ist. Auch Schönkes und Frieds Tetraeder haben ein Skelett aus einer langen Mittelstange und zwei kurzen Endstangen, die mit ihren Mittelpunkten rechtwinklig an die Mittelstange angeschweißt sind. Diesmal sind allerdings die Endstangen nicht um 90 Grad gegeneinander verdreht, sondern um einen kleineren Winkel namens α, der noch zu bestimmen ist. Durch die Konstruktion bedingt, haben die Tetraeder vier untereinander kongruente Seitenflächen.

Tetraederwinkel | Bei den Tetraedern aus den Kaleidozyklen von Johannes Schönke und Eliot Fried beträgt der Winkel α zwischen den beiden Scharnierkanten nicht 90 Grad (links), sondern er ist kleiner (rechts).

Verbindet man lauter solche Tetraeder zu einer geradlinigen Kette, und die kurze Kante des ersten Tetraeders steht vertikal auf dem Tisch, dann ist das erste Scharnier gegenüber dieser Kante um α verdreht, das zweite um 2α und so weiter. Wenn der Winkel α geeignet gewählt ist, steht vielleicht das N-te Scharnier wieder vertikal, so dass man die Kette zum Ring schließen könnte – wenn nicht durch das Krummlegen die Abweichungen von der Vertikalen sich noch zusätzlich verändern würden. Aber dem ist abzuhelfen, indem man den Winkel α noch etwas kleiner macht.

Verfolgt man die Scharniere entlang der Kette, so machen sie auf einer Runde nicht etwa eine halbe Umdrehung, was ja für die Passung zur geschlossenen Kette ausreichen würde, sondern drei halbe. Dabei stellt man sich vor, es gäbe es die Scharnierstellung nicht nur da, wo tatsächlich Scharniere sind, sondern auch überall zwischendurch, so als ob das Scharnier allmählich seinen Winkel gegenüber der Vertikale verändern würde. Wenn es also am Beginn seines Weges aufrecht steht, kommt es kopfstehend am Ziel an – das gleich dem Start ist –, und nicht nur das: Es hat außerdem unterwegs einmal auf dem Kopf und einmal wieder aufrecht gestanden.

Diese Umkehr der Orientierung hat die Kette mit dem bekannten Möbiusband gemeinsam, auch wenn Letzteres sich mit einer statt drei Umkehrungen begnügt. Aus diesem Grund nennen Schönke und Fried ihre Tetraederketten »Möbius-Kaleidozyklen«.

Wie viele Freiheitsgrade hat ein Möbius-Kaleidozyklus? Das kommt darauf an. Zunächst hat man gewisse Freiheiten bei der Wahl des Winkels α, also der »Geschwindigkeit«, mit der das gedachte, kontinuierlich die Kette entlangwandernde Scharnier um eine horizontale Achse rotiert. Je größer der Wert von α, desto wackliger ist das ganze Gebilde. Diese Bewegungsfreiheit lässt sich nutzen, um die Kette zu schließen. Umgekehrt gilt: Wenn man α immer kleiner macht, kommt irgendwann der Punkt, an dem die Kette nicht mehr hampeln kann. Genau bei diesem Wert von α sinkt die Anzahl der Freiheitsgrade auf eins ab, und die ganze Kette wird »zwangläufig beweglich«, so nennen die Fachleute den Zustand mit nur einem Freiheitsgrad.

Vielleicht ist das die Stelle, an der die Koeffizienten einer quadratischen Gleichung sich so ändern, dass sie nur noch eine Lösung statt vorher zwei hat und für noch kleinere Werte von α gar keine mehr. Aber im Gestrüpp der zahlreichen Gleichungen ist diese spezielle Gleichung – wenn es sie gibt – nicht zu finden, und deswegen hilft auch die übliche Lösungsformel nicht weiter. Vielmehr fanden Schönke und Fried den entscheidenden Wert von α für diverse Gliederzahlen N durch gezieltes Probieren mit einem geeigneten Computerprogramm.

Bemerkenswerterweise kommt es bei der ganzen Rechnerei auf die Länge der Scharniere, das heißt die Länge der kurzen Stangen im Tetraederskelett, überhaupt nicht an. Wenn man die Scharniere länger macht, wird die Umstülpbewegung ausladender, bleibt aber im Prinzip unverändert. Nur gegenseitig behindern dürfen sich die Kettenglieder nicht. Wählt man die Scharnierlänge knapp unter dieser Verklemmungsgrenze, so kann einem beim Anblick der Bewegung schwindlig werden: Im Gegensatz zu den klassischen Kaleidozyklen, die allenfalls für einen Moment eine geschlossene Fläche bilden, lässt die Kette in der Mitte nie einen Platz zum Durchkommen. Immer dringen irgendwelche Kettenglieder in die Mitte ein, aber auf wundersame Weise geraten sie sich nie ins Gehege.

Für die Gesamtbewegung kommt es auch nicht darauf an, wie der Platz zwischen den Scharnieren ausgefüllt wird. An Stelle von Tetraedern kann man auch geschwungene Formen verwenden.

Möbius-Kaleidozyklus | In diesem 3-D-gedruckten neunteiligen Möbius-Kaleidozyklus ist kaum noch zu erkennen, dass jedes Kettenglied aus einem Tetraeder hervorgegangen ist.

Wenn insbesondere N ein Vielfaches von drei ist, hat der ganze Kaleidozyklus eine Dreiersymmetrie. Und in diesem Falle »atmet« er: Im Verlauf einer Umstülpung dehnt er sich aus und zieht sich wieder zusammen. Theoretisch kann man beliebig viele gleiche 3-symmetrische Kaleidozyklen in der Ebene anordnen und miteinander verbinden, indem man ein Scharnier vom einen und eins vom anderen in gerader Linie aneinanderlegt und durch eine starre Stange koppelt, die entlang beider Scharniere verläuft. Dann atmet das ganze Ensemble.

Symmetrie eines Kaleidozyklus | Ein neunteiliger Kaleidozyklus verfügt über eine dreizählige Symmetrie. Daher kann man derartige Kaleidozyklen (rot) und deren Spiegelbilder (türkis) zu einem Bienenwabenmuster anordnen, indem man passende Scharniere verlängert (gelb). Das ganze Ensemble bleibt zwangläufig beweglich. Im Verlauf der Bewegung zieht es sich zu einer dichtgepackten Form zusammen; in dieser Darstellung liegen die roten Zyklen oben und die türkisen eine Ebene darunter.

An dieser Stelle tut sich eine denkbare Anwendung für einen solchen Mechanismus auf: Im Prinzip könnte man ihn dichtgepackt in den Weltraum schicken und sich dort entfalten lassen. Die Funktion hängt nicht davon ab, ob die Komponenten des Mechanismus tatsächlich Tetraeder sind oder nur deren Skelette oder noch ganz anders geformt sind. Nur die Positionen der Scharniere müssen stimmen.

Wie es sich für richtige Mathematiker gehört, haben auch Schönke und Fried darüber nachgedacht, was passiert, wenn man die Gliederzahl N gegen unendlich gehen lässt. Das Ergebnis: Die Tetraeder werden immer schmäler, während die Scharniere gleich lang bleiben und immer näher zusammenrücken. Am Ende besteht die Kette gewissermaßen nur noch aus Scharnieren dicht an dicht: ein Gummiband, das aus lauter geraden Strecken – den ehemaligen Scharnieren – besteht, aber nicht abwickelbar, sondern auf merkwürdige Weise in sich verwunden ist und selbstverständlich nach wie vor eine Umstülpbewegung ausführen kann.

Verschiedene Kettenglieder | Möbius-Kaleidozyklen mit 6, 9, 12, 15, 21 und »unendlich vielen« Kettengliedern. Die hellblaue Linie verbindet die Mittelpunkte der langen Tetraederkanten miteinander, die Scharniere sind rot eingezeichnet. Dementsprechend ist das dreifach gewundene Möbiusband, das den Grenzfall für N gegen unendlich bildet, einheitlich rot.

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  • Quellen

Grunwald, M., et al.:Sevenfold and ninefold Möbius Kaleidocycles. Bridges 2018 Conference Proceedings, 2018

Schönke, J., Fried, E.: Single degree of freedom everting ring linkages with nonorientable topology. PNAS 116, 2019

Walker, W., Schattschneider, D.: M. C. Escher Kaleidozyklen. Taschen, Köln 2019

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