Sprache der Schwertwale: »Eine Funktion der Dialekte besteht wohl darin, Inzucht zu vermeiden«

Herr Deecke, man sagt, dass verschiedene Orca-Gruppen ihre eigenen Dialekte haben. Stimmt das?
Das ist richtig. Ähnlich wie man einen Berliner oder einen Hamburger anhand seines Dialekts zuordnen kann, ist das auch bei Orcas möglich. In unseren Tonaufnahmen erkennen wir zum Beispiel, dass die Tiere einen bestimmten Ruf öfter nutzen oder einen Extralaut anhängen. Auf diese Weise können wir verschiedene Populationen und insbesondere Untergruppen darin anhand der Akustik unterscheiden.
Tiere aus derselben Population können also auch unterschiedliche Dialekte haben?
Ja, tatsächlich ist die Kommunikation der Orcas sehr komplex. Wenn wir zum Beispiel eine ortsansässige Population vor British Columbia betrachten, die so genannten Northern Resident Killer Whales: Bei ihnen gibt es drei akustische Clans, die überhaupt keine Rufe gemeinsam haben, obwohl sie viel Zeit miteinander verbringen. Und ein solcher Clan besteht wiederum aus mehreren Matrilinien, die bestimmte Rufe teilen, aber zusätzlich ihren eigenen Satz von Rufen haben.
Was sind Matrilinien?
So nennen wir Familiengruppen mit dem ältesten Weibchen als Oberhaupt, ihren Töchtern und Söhnen sowie den Enkelkindern und manchmal sogar Urenkelkindern. Wenn wir nun einer Gruppe der Northern Residents zuhören, können wir sagen: Okay, das ist diese oder jene Matrilinie aus diesem oder jenem akustischen Clan.
Wie unterscheiden sich die Dialekte?
Die so genannten Transient Killer Whales haben zum Beispiel ein vollkommen anderes Rufverhalten als die Northern Residents, obwohl sie teilweise dieselben Gewässer bewohnen. Wahrscheinlich liegt das größtenteils an dem, was sie fressen: Während sich die Transients ausschließlich von Meeressäugern wie Robben oder Seehunden ernähren, jagen die Northern Residents nur Fische. Robben und Seehunde haben ein sehr gutes Gehör, daher müssen die Transients ziemlich leise sein, wenn sie jagen. Ihr Rufverhalten hat sich daher im Vergleich zu dem der Northern Residents ganz anders entwickelt. Sie haben ein kleineres akustisches Repertoire und nutzen weniger Pfeiftöne. Interessanterweise hat auch die Beute daraus gelernt: Wir haben Seehunden Tonaufnahmen von Orca-Rufen vorgespielt, und sie wissen ganz genau, welche davon Gefahr für sie bedeuten und welche nicht.
Ein Hamburger und ein Berliner können sich trotz Unterschieden im Dialekt verstehen. Wie ist das bei Schwertwalen?
Weil wir die Bedeutung hinter den Rufen nicht vollständig kennen, ist es schwierig zu sagen, ob sie sich »verstehen«. Orcas können aber zumindest unterscheiden, ob die Rufe von verwandten Tieren kommen oder nicht. Mein Kollege Lance Barrett-Lennard hat sich zum Beispiel bei den Northern Residents die Verwandtschaftsbeziehungen genauer angeschaut. So hat er herausgefunden, dass sich Weibchen mit Männchen paaren, die von einem anderen akustischen Clan kommen. Eine Funktion der Dialekte besteht also wohl darin, Inzucht zu vermeiden.
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Orcas erkennen einen geeigneten Paarungspartner demnach an den Rufen?
Die »Paarungsregel« könnte so sein, dass nur Partner mit fremden Rufen attraktiv sind. Rufe werden immer von der Mutter gelernt. Wenn sich nun ein Weibchen mit einem Männchen paart, das anders klingt, wird zumindest vermieden, dass sich zwei über die weibliche Linie verwandte Individuen paaren. Und in einer Population von ungefähr 300 Tieren in den Northern Residents reicht diese einfache Regel offenbar aus, um keine Probleme mit Inzucht zu bekommen.
Auch wenn die Laute keine Sprache sind, wie wir sie kennen, geben die Schwertwale damit dennoch Informationen weiter?
Wir vermuten, dass die Rufe dazu dienen, das Verhalten der Tiere untereinander abzustimmen – allen voran innerhalb einer Matrilinie. Die A-12 Matrilinie der Northern Residents hat zum Beispiel ein Repertoire von 14 verschiedenen Ruftypen. Jedes Tier gibt im Durchschnitt ungefähr zwei Rufe pro Minute von sich. Wenn wir beide jetzt nur zwei Silben pro Minute sagen würden, dann würde dieses Interview mindestens einen Tag lang dauern. Daher darf man sich nicht vorstellen, dass die Orcas wie wir Menschen miteinander sprechen.
Was genau stimmen die Tiere ab?
Es gibt zum Beispiel die so genannten »Resting Calls«, die sie von sich geben, wenn sie an der Oberfläche ruhen. Solche Rufe signalisieren wahrscheinlich die Identität und dienen dazu, dass ein einzelnes Tier nicht von der Gruppe wegdriftet. Oder wenn sich ein Jungtier von der Herde entfernt, könnten die Calls helfen, die eigene Gruppe wiederzufinden. Und bei den Residents beobachten wir, dass die Orcas Lachse meist einzeln jagen und die Beute dann teilen. Vielleicht wird dieses Teilen akustisch koordiniert. Aber eine Unterhaltung wie bei uns kommt bei Schwertwalen ganz sicher nicht zu Stande.
»Wir vermuten, dass die Rufe dazu dienen, das Verhalten der Tiere untereinander abzustimmen«
Nutzen Sie auch künstliche Intelligenz, um die Kommunikation der Wale zu analysieren?
Ich habe viel mit neuronalen Netzen gearbeitet, um die Ähnlichkeit von verschiedenen Laut-Typen zu bestimmen. Damit erhält man zum Beispiel ein quantitatives Maß dafür, wie sehr sich die Rufe bestimmter Familiengruppen gleichen oder unterscheiden. Diese Information hilft uns, das Verhältnis zwischen Verwandtschaft der Gruppen und der Ähnlichkeit ihrer Dialekte besser zu verstehen und herauszufinden, wie sich die Dialekte mit der Zeit verändern.
Sie studieren die Akustik der Orcas bereits seit mehr als drei Jahrzehnten. Was fasziniert Sie eigentlich so an den Tieren?
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich zum ersten Mal ein Hydrophon ins Wasser ließ, um die Laute der Schwertwale zu hören und aufzunehmen: Der plötzliche Einblick in ihre vielfältige Unterwasserklangwelt, die uns sonst komplett verborgen bleibt, war überwältigend und inspirierend. Schwertwale leben im Vergleich zum Menschen in einer komplett anderen Umwelt. Und trotzdem haben diese Säugetiere die gleichen Probleme wie wir: Partner und Nahrung finden, Kontakt mit Familienangehörigen und anderen Artgenossen erhalten und sich in einem komplexen sozialen Umfeld zurechtfinden. Auch nach 30 Jahren fasziniert es mich, wie Schwertwale solche Probleme lösen – manchmal so ähnlich wie wir, manchmal vollkommen anders.
Die Akustik der Schwertwale
Orcas erzeugen Töne, indem sie Luft zwischen den Schalllippen im Bereich des Blaslochs bewegen. Insgesamt geben sie drei Arten von Lauten von sich: Klicks, Pfiffe und Rufe. Die Klicklaute sind Teil des Sonars und werden zur Echoortung verwendet. Auf diese Weise können die Wale Beute oder andere Tiere und Objekte im Meer lokalisieren. Die Pfiffe sind in der Regel hohe Töne, die einige Sekunden lang andauern. Sie dienen wahrscheinlich zur Kommunikation über kurze Distanzen innerhalb der Gruppe. Die Rufe wiederum sind pulsierende Signalabfolgen unterschiedlicher Frequenz, die für jede Orca-Familie einzigartig sind. Vor allem die Rufe, aber auch die Pfiffe dienen dazu, das Verhalten der Tiere untereinander abzustimmen. Zwar kann ein Orca-Kalb schon wenige Tage nach der Geburt Laute von sich geben. Diese gleichen aber zunächst eher lauten, schrillen Schreien, die keine Ähnlichkeit mit den Rufen der Erwachsenen aufweisen. Im Alter von etwa zwei Monaten lernt ein Junges seine ersten gepulsten Rufe, die denjenigen der Erwachsenen gleichen. Bis zur Pubertät im Alter von 12 bis 16 Jahren erweitert sich ihr Rufrepertoire.
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