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Nationalpark Unteres Odertal: Drunten in der wilden Au

Im Unteren Odertal kann man die Dynamik einer Flussaue erleben. Monatelang steht das Land hier unter Wasser – wodurch eine einzigartige Artenvielfalt entsteht.
Eine grüne Flusslandschaft mit Bäumen, die im klaren Wasser stehen. Der Himmel ist blau und wolkenlos. Im Hintergrund sind weitere Bäume und Wiesen zu sehen.
Wo die Oder jedes Jahr die Polder fluten darf, ändert sich das Ökosystem: Es siedeln sich nun Auenbewohner an, die die Überschwemmung tolerieren oder gar brauchen.

Wenn man vom kleinen Ort Criewen im Nationalpark Unteres Odertal ein paar Schritte Richtung Osten geht, erreicht man erst eine hübsche Metallbrücke und bald darauf einen Asphaltweg, hinter dem die Landschaft ein paar Meter abfällt. Die Brücke überspannt die Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße, der asphaltierte Weg gehört zum Winterdeich, der Criewen vor Hochwasser schützt. Die Oder selbst schiebt sich erst einen knappen Kilometer weiter im Osten gemächlich durch die Landschaft. Zwischen Deich und Fluss: eine weite, offene Fläche in saftigem Grün – der Criewener Polder.

Wenn die Sonne durch die Wolken bricht, spiegelt sich ihr Licht im flachen Wasser, das in weiten Teilen des Polders steht. Auf der Wiese im Vordergrund staksen 14 Störche auf der Suche nach Nahrung durch die kniehohe Vegetation. Dazu gesellen sich ein Trupp Kraniche, Graugänse mit ihren Gösseln sowie etliche Grau- und Silberreiher. Aus einem schmalen Schilfgürtel dröhnt der Bass der Rohrdommel.

»Die offene Landschaft, auf die wir hier blicken, ist die Flussaue der Oder«, sagt Dirk Treichel. Treichel ist der Leiter des Nationalparks Unteres Odertal. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass auf der Wiese mit den Störchen auch im Mai noch so viel Wasser steht und dass die Vögel reiche Nahrungsgründe vorfinden.

Die Oder, die hier in Brandenburg die Grenze zu Polen markiert, ist wie die meisten Flüsse Europas in der Vergangenheit reguliert worden: um verlässliche Verkehrswege zu bekommen, um die Dörfer vor Hochwasser zu schützen und um dem Fluss so viel kostbares Land wie möglich abzupressen. So auch hier. Die parallel zur Oder verlaufende Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße ist ein alter Flussarm, der für den Schiffsverkehr ausgebaggert wurde. Das Offenland zwischen Wasserstraße und Fluss ist eingedeicht. Vom späten Frühjahr bis in den Herbst hinein werden die Flächen von der Landwirtschaft als Viehweiden genutzt.

Criewener Polder | Das Gebiet zwischen Oder und Wasserstraße gehört zwar zum Nationalpark, wird aber weiterhin auch landwirtschaftlich genutzt. Deswegen schließt die Parkverwaltung im Frühjahr den Zulauf vom Fluss.

Die Oder gelangt noch immer in die Au

Die direkte Verbindung zum Fluss ist aber nie ganz abgerissen: »Über Ein- und Auslassbauwerke kann der Zustrom und Abfluss des Wassers reguliert werden«, erläutert Treichel. Wenn im Herbst die Pegel der Oder steigen, werden diese geöffnet und weite Polderflächen unter Wasser gesetzt. Das Wasser strömt frei über die Fläche und dann über die Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße ab. Bei sinkenden Pegeln im Frühjahr werden die Einlässe geschlossen und die Polder fallen nach und nach trocken. Das System, das vor etwa 100 Jahren fertig gestellt wurde, dient einerseits dem Hochwasserschutz. Andererseits werden die Weideflächen durch die periodischen Überflutungen – ähnlich wie im alten Ägypten die Überschwemmungsflächen am Nil – mit wichtigen Nährstoffen versorgt.

Das Überflutungsregime im Nationalpark betrifft nur einen Teil der Flussaue. Aber immerhin in drei zusammenhängenden Poldern (Criewener Polder, Schwedter Polder und Fiddichower Polder) mit einer Gesamtfläche von mehr als 4800 Hektar kann sich die Flussaue für einen Teil des Jahres ziemlich naturnah entwickeln. »2024 haben wir die Bauwerke erstmals bis Mitte Mai offen gelassen. Dadurch haben wir noch einen Schwung des Frühjahrshochwassers mitgenommen, so dass die Flächen deutlich länger überstaut bleiben«, sagt Treichel. Im historisch trockenen Frühjahr 2025 dagegen erreichten die Überflutungen trotz geöffneter Wehre nur Teile der Polder, auch blieb das Wasser nicht so lange wie im Jahr zuvor.

»Um als Ökosystem zu überleben, braucht die Aue regelmäßige Überschwemmungen. Durch die wechselnden Wasserstände entsteht eine Dynamik, die zu einer besonderen Artenvielfalt führt«, erklärt Treichel. Bei einer Rundfahrt durch die Polder ist gut zu erkennen, was diese von Wasser gespeiste Vielfalt ausmacht: In der Nähe des Oderdeichs und entlang von früheren Flussarmen, die immer noch Wasser führen, haben sich Teile des Auwalds erhalten. Schwarzpappeln, Schwarzerlen und Silberweiden stehen dort. Klassische Pionierarten, die an anderen Standorten schnell von anderen Bäumen verdrängt würden. Hier aber können sie bestehen, weil sie mit Feuchtigkeit und Überschwemmungen deutlich besser zurechtkommen als die Konkurrenz. Die Bäume stehen inselmäßig verteilt in der ansonsten weitläufig offenen Landschaft. Das dichte Nebeneinander von Bäumen, Büschen, Wasser- und Schlammflächen, Schilf, Gräsern, Seggen und Röhrichten bietet einen Strukturreichtum, der fast von selbst eine große Artenvielfalt hervorbringt.

Rastplatz für Zugvögel

Durch die veränderlichen Wasserstände kommt noch ein weiteres dynamisches Element hinzu: »Im Frühling und Herbst, wenn die Polder kilometerweit überflutet sind, rasten hier bis zu 150 000 Zugvögel«, berichtet Treichel. Saat- und Blässgänse, Stockenten, Pfeifenten, Krickenten und Spießenten, Höckerschwäne, Singschwäne und Kraniche. Im Frühling finden durchziehende Watvögel wie Kampfläufer, Grünschenkel und Bruchwasserläufer am Rand der Überschwemmungsflächen ideale Bedingungen vor. Auch für Weißstörche und die wesentlich selteneren Schwarzstörche ist das Untere Odertal mit seinen Überschwemmungsflächen ein wichtiger Lebensraum. »Die Schwarzstörche profitieren von den Feuchtwiesen und von den ungestörten Waldflächen, die sie im Nationalpark und im Landschaftspark auf polnischer Seite zum Nisten nutzen«, sagt Treichel. Mindestens sechs Paare brüten regelmäßig in der Grenzregion, viele weitere nutzen das Gebiet zur Rast auf dem Durchzug.

Bei der Fahrt durch den Criewener Polder kommt man an zahllosen Tümpeln, Altarmen und Flachgewässern vorbei. Einige werden im Verlauf des Sommers vermutlich austrocknen, größere Gewässer führen das ganze Jahr über Wasser. Die Überflutungen im Winter und Frühling helfen dabei, ihren Fortbestand zu sichern: »Ohne sie würden die Gewässer über kurz oder lang verlanden«, so Treichel. Ein wichtiger Bestandteil des Auen-Ökosystems würde dann verloren gehen.

Dirk Treichel | Der Leiter des Nationalparks führt durch die Polderlandschaft. »Durch die wechselnden Wasserstände entsteht eine Dynamik, die zu einer besonderen Artenvielfalt führt«, sagt er.

Die gelenkte Dynamik im Nationalpark trägt dazu bei, dass von dem artenreichen Feuchtland der Oder wesentlich mehr erhalten geblieben ist als an den meisten anderen großen Flüssen Europas. Bei der Tour über die Deiche zeigen sich aber auch die Grenzen des Systems. Treichel stoppt den Wagen und deutet auf eine Stelle unterhalb des Sommerdeichs, an der ein dichtes Weidendickicht steht. Solche Weiden würde man in einer natürlichen Aue an deutlich mehr Stellen erwarten, hier sind sie selten, weil ihnen der Sand im Boden fehlt. Die geregelt einströmenden Flusswässer im Criewener Polder führen kaum Sand mit sich. Es brauchte einen Deichbruch, der sich hier vor zehn Jahren ereignete, um den Weidensamen Sand und die Chance zum Keimen zu schenken.

Auch Schwarzpappeln brauchen offenen Boden, auf dem sie austreiben können. Weil das auf natürlichem Weg im Nationalpark nicht möglich ist, wurden auf einem Stück Land, das sich gerade im Übergang von einer landwirtschaftlich genutzten Fläche hin zur Wildnisfläche befindet, vor ein paar Jahren eine Reihe von Schwarzpappeln nahe dem Oderdeich gepflanzt.

Einlass für die Oder | Weil die Oder hier eingedeicht ist, braucht es anders als in einer natürlichen Au künstliche Durchlässe, um Wasser auf die Polder zu bringen.

Man spürt: Die Oderaue bei Criewen bleibt ein Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der Landwirtschaft und der Nationalparkidee, »die Natur Natur sein zu lassen«. Wildnisgebiete grenzen hier an so genannte Pflegezonen, zu denen auch große Teile des Polders gehören. Hier darf weiterhin Landwirtschaft betrieben werden – weil es sie in den Poldern schon lange vor der Gründung des Nationalparks gegeben hat. Und auch, weil sie einigen gefährdeten Arten und Lebensraumtypen guttut. Dem Kiebitz zum Beispiel oder den seltenen Brenndolden-Auenwiesen.

Wo der Polder wilder wird

Einen Schritt weiter ist die naturnahe Entwicklung ein paar Kilometer flussabwärts im 1800 Hektar großen Fiddichower Polder, der vollständig als Wildnisgebiet entwickelt wird. Die landwirtschaftliche Nutzung ist in vielen Bereichen eingestellt, seit zehn Jahren ruht der Betrieb der Schöpfwerke, die früher im Sommer das Wasser aus dem Polder pumpten. Das macht sich in der Vegetation bemerkbar. Treichel stoppt den Wagen und zeigt auf eine weite, offene Fläche, die sich unterhalb des Deichs fast bis zum Horizont erstreckt. Anders als im Criewener Polder dominiert hier eher Braun statt Grün: Schilf, Seggen und Rohrkolben stehen schulterhoch. Wenn der Wind durch die Halme weht, hört man sie leise rascheln.

Auf den ersten Blick sieht die Fläche eintöniger aus als die Weidelandschaft bei Criewen. Eine einzige Farbe, soweit das Auge reicht, kaum Abwechslung. »Solche weit ausgedehnten Röhrichte sind wichtiger Lebensraum für eine ganze Reihe bedrohter Arten«, sagt Treichel. Alles, was »Rohr« im Namen trägt, kommt hier vor: Das grillenähnliche Schnarren der Rohrschwirls ist zu hören, das Krächzen und Knarren des Drosselrohrsängers, das tiefe, dumpfe Hupen mehrerer Rohrdommeln. Eine Rohrweihe zieht mit v-förmig angehobenen Flügeln ihre Kreise. Rohrammern, Schilf- und Teichrohrsänger kommen hier ebenso vor wie Beutelmeise, Tüpfelsumpfhuhn und Bekassine. Die Artenzusammensetzung hat sich deutlich verändert, seit man hier auf Landwirtschaft verzichtet. Klassische Wiesenbrüter wie Kiebitze, Rotschenkel oder eben die Wachtelkönige mussten neues Quartier beziehen, etwa im Criewener Polder.

»Wenn es keine landwirtschaftliche Nutzung mehr im Polder gibt, müssen wir den Wasserstand hier auch nicht mehr künstlich regulieren«, sagt Dirk Treichel. Die Ein- und Auslassbauwerke werden ganzjährig geöffnet bleiben, der Wasserstand im Polder steigt und fällt dann das ganze Jahr über mit dem Pegel der Oder. In voraussichtlich ein bis zwei Jahren könnte es so weit sein.

Ein riesiges Landschaftslabor

Dass sich die Artenzusammensetzung ändert, dass Arten vertrieben werden, das müsse man Treichel zufolge akzeptieren. »Zu einer natürlichen Entwicklung im Nationalpark gehört auch, dass wir die Prozesse nicht beeinflussen.« Prozessschutz heißt der Fachbegriff dafür. In jedem Nationalpark muss der überwiegende Teil der Flächen unter Prozessschutz gestellt werden, so verlangt es das Gesetz. Überwiegend bedeutet aber auch nur: mehr als 50 Prozent. Im Unteren Odertal wird der Wildnisanteil in Zukunft bei genau 50,1 Prozent der Fläche liegen. Mehr ist angesichts der komplizierten Eigentums- und Nutzungsverhältnisse nicht möglich. Bei seiner Gründung im Jahr 1995 musste der Nationalpark zunächst sogar völlig ohne eigene Flächen auskommen. Erst durch ein großes Bodenordnungsverfahren, in dem Eigentümern von Flächen in den Poldern Äcker und Weiden außerhalb zum Tausch angeboten wurde, ist der Nationalpark selbst zum Flächeneigentümer geworden.

Raum für alles, was »Rohr« im Namen trägt | Wo der Wasserstand nicht mehr reguliert wird, machen sich ausgedehnte Schilfgebiete breit. Erneut ändert sich dabei die Artenzusammensetzung, und Braun dominiert das einstige Grünland.

Aber auch rund 50 Prozent sind bereits viel: Der derzeitige Wildnisanteil von knapp 1600 Hektar wird sich dadurch in den kommenden Jahren auf mehr als 5000 Hektar verdreifachen. Der größte Teil davon liegt in der Oderaue. Mehrere tausend Hektar zusammenhängende Wildnis, das hat in Deutschland immer noch Seltenheitswert. Es braucht aber so große Flächen als riesiges Landschaftlabor, in dem der Mensch interessiert zuschauen kann, was passiert.

»Wenn eine Gruppe Wildschweine den Boden im Röhricht aufwühlt und der Wind günstig steht, kann es sein, dass dort in ein paar Jahren ein dichtes Weidengebüsch wächst«, sagt Treichel. Vielleicht aber auch nicht. Oder erst in zehn Jahren. Oder eben an einer anderen Stelle im Polder.

Eine ganz andere Beobachtung lässt sich bereits jetzt auf den riesigen naturnahen Flächen machen. Fast überall im Nationalpark herrscht Jagdruhe, von der aktuell nur die Wildschweine wegen der Afrikanischen Schweinepest ausgenommen sind. Viele Wildtiere haben deshalb ihre Scheu vor Menschen weitgehend abgelegt: Auf der Tour durch die Polder schnürt direkt vor Dirk Treichels Wagen ein Fuchs über den Deich und widmet sich dann – höchstens vier oder fünf Meter entfernt – hoch konzentriert dem Mäusefang. Später, bei einem Spaziergang durch den Criewener Polder, ein ähnliches Bild: Nahe der Brücke, die über die Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße führt, hockt ein Biber am Ufer und macht sich über die frischen Zweige einer Weide her. Auch ein Rehbock springt nicht in Panik davon, als er den Menschen bemerkt, der ihm entgegenkommt. Er schlägt lediglich einen etwas weiteren Bogen und setzt dann seinen Weg fort. Fast schon zurück in Criewen, das gleiche Spiel: Einer von vielen Hasen hoppelt direkt auf den Besucher zu. Bleibt kurz stehen, schnuppert, geht weiter, bleibt nicht einmal einen Meter entfernt sitzen. Die Struktur des Fells, die verschiedenen Farbtöne der langen Ohren, die braunen Augen mit den riesigen Pupillen, all das ist aus nächster Nähe zu studieren.

Planbar sind solche Begegnungen nicht, genauso wenig wie das meiste andere, was sich hier im Nationalpark abspielt. Genau das macht den Charakter einer Landschaft aus, die sich endlich aus dem Korsett von Deich und Kanal befreit.

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